weinpraesente


     

     
Die müden Rüden: Harry Hochheimer (mit Mütze), Klaus Trebes (mit Zigarre)                 und Roland Rrzysinski
     

Wer oder was ist ein Stammtisch?

In Niederbayern, zum Beispiel, nennt man so jenen Umschlagplatz, an dem mit Vieh und Bräuten gehandelt wird. Andere dagegen, etwa latent magenkranke Früchteteetrinker aus den Volkshochschulseminaren für neuere Literatur und Batik, schelten den Stammtisch einen Ort, wo man die Meinung erwirbt, die man schon immer hatte: Ein eigentlich widerlicher Ort sei das, erfüllt mit Bier- und Weingerüchen und Säuischem Männergegröle. Ganz nüchtern betrachtet ist der herkömmliche Stammtisch ,,...in einem bestimmten Lokal ein bestimmter Tisch in einem bestimmten Winkel, an dem zur bestimmten Stunde bestimmte Gäste auf ihrem bestimmten Platz sich niederlassen, um bei der Vertilgung einer bestimmten Menge eines bestimmten Getränkes aus bestimmten Gläsern über bestimmte Themen zu sprechen und dann zu einer bestimmten Stunde aufbrechen, weil man zur bestimmten Zeit zu Hause bestimmt erwartet wird.“

Zu diesem hochwissenschaftlichen Ergebnis kommt eine objektive, vollkommen wertneutrale Analyse der Kulturzeitschrift Fliegende Blätter. Ist der sensible Autor, der offenkundig diese Art von versöhnender Basisarbeit mit großem menschlichen Respekt beurteilt hat, etwa auch Mitglied eines ebensolchen Stammtischs? Seine profunden Kenntnisse von Ort, Zeitaufwand und Ritualen scheine ihn zu outen. Seiner diplomatischen Feinfühligkeit zufolge könnte er durchaus in Frankfurt am Main wohnen und Montag für Montag Mitglied einer Runde sein, die sich um ihre Umwelt mit großem Einsatzwillen klarmacht, dass Genießen noch nie ein leichtes Spiel war. Allein die Namen dieser Tafelrunde deuten auf die Schwere der Aufgabe hin: die müden Rüden.

Es ist nicht ganz einfach, sich ein klares Bild zu machen, denn die Fixpunkte dieser betrachtenswerten Institution sind ihrer vier.

Sie heißen: Klaus Trebes, Franz Zlundka, Gargantua und Literaturhaus. In diesem Karree bewegen sich die müden Rüden wie ein rastloses Rudel, immer auf der Flucht vor den lustfeindlichen Attacken des Alltags. Schließlich greifen die mühsam ersonnenen Abwehrmechanismen. In bauchigen Burgundergläsern kreisen Romanée-St. Vivant und Grands Echézeaux; über den Tisch zieht der feine Duft von Kutteln und Morcheln in Champagnerbutter; ein großes Gurkenglas, gefüllt mit köstlichen Piemonttrüffeln, macht die Runde.

     
     
     

Durch den Raum dröhnt homerisches Gelächter, das jeglicher Devotion vor den schönen Dingen des Lebens barsch die Tür weist. Für Außenstehende ziemlich viel auf einmal:

müde Rüden; ein Stammtisch der Individualisten, und dann doch wieder nicht, die Suche nach dem ultimativen Genuss. Sind wir endgültig in jenem fruchtbaren Milieu versackt, das Eckhard Henscheid seinem Jahrhundertroman Die Vollidioten zugeordnet hat. Eigentlich sind es ja zwei Stammtische. Die müden Rüden und die Runde im ,,Gargantua“. Doch dann ist wieder alles anders, und alles überschneidet sich. Müde Rüden, Gargantua, alles wird zu einer explosiven Ursuppe, ‘tschuldigung: zu einem delikaten Brei, wenn’s geht mit Trüffeln, in dem etliche Köche rühren. Und wer zum, Teufel ist Gargantua? Francois Rabelais (1494 bis 1553), französischer Wandermönch, Arzt, Schriftsteller und kompromissloser Gourmet und Gourmand, hat die literarische Saft- und Kraftfigur geschaffen: Ein Riese, der fressend und saufen durch das heilige Frankreich zieht, getrieben von der Suche nach der göttlichen Flasche, Seit Jahrhunderten gilt Gargantua als der Apostel der bacchantischen Menschenlehre. Seine Jünger lebten im Glauben, dass der Himmel zuerst auf Erden stattzufinden hat, z. B. Im Frankfurter Restaurant ,,Gargantua“. Nach diesem Prinzip tagen auch die müden Rüden.

Doch was, blöde Frage, ist ein müder Rüde? Ein armer Hund, völlig ausgepowert von Trieb und Daseinskampf? Er hat mit Hingabe genossen; mag sein, dass ihn nun Wohligkeit und andere sanft Bedürfnisse überkommen. In Gegensatz zu, sagen wir, schlaffen Affen sind die müden Rüden eigentlich ganz munter. Sie haben nur für ein paar Stunden ihre primären Aufgaben als Designer, Journalist, Kabarettist, Literat, Texter, Weinhändler, Gastrosoph oder Jurist selbstlos in den Hintergrund gestellt und geben sich nun ihrer eigentlichen Aufgabe hin. Alles begann bei einem Bob-Dylan-Seminar, in dessen Verlauf im Café des Frankfurter Literaturhauses zweifelsfrei festgestellt wurde, dass die Musik Dylans qualitativ die beste sei.

Viktor Steinbrück, Musiker und Inhaber eines Fahrradladens, hatte schließlich den Einfall, eine Band mit dem anschaulichen Namen ,, Die müden Rüden“ zu gründen. Und einen Stammtisch. Was zuerst da war, lässt sich nicht mehr so genau sagen.

     
     
Jedenfalls ist der Stammtisch die Band und umgekehrt, Franz Zlunka, Wirt des Cafés in Frankfurter Literaturhaus, gibt einige intime Einblicke in die Aufgabenstellung des zwölf- bis dreizehnköpfigen Gremiums: ,,Wir bearbeiten bei unseren Sitzungen nur zentrale Themen. Zunächst haben wir, als man anfing, in jeder Kneipe französisch zu kochen, das Manifest Kulinarischer Diktatur verabschiedet. Das war nicht einfach und erforderte unermüdlichen Einsatz. Mit dem gleichen Engagement gehen wir die Rotweinforschung an. Das sind doch die Fragen, die unser Land wirklich bewegen.“ Für die erhebenden Dinge der Kunst ist die Band der müden Rüden zuständig. Sie folgt konsequent den Spuren des Beats. ,, Wir arbeiten mit Trommeln“, sagt Franz Zulka. Aha, mit mehreren Schlagzeugen? - ,, Nein, mit Trommeln! Das sind unsere Instrumente. Wir trommeln mit den Händen und mit anderen kneipenüblichen Utensilien auf den Stammtisch.“ So entstanden zeitlose Werke wie die internationale Fußballhymne Berti à Paris. Le cup. c’est moi oder die melancholische Blues-Klage. Wir sind alle Grottenolme. Neben Franz Zlunka opfert sich ein Mann auf, der in Frankfurt Kultstatus genießt : Klaus Trebes, 50, Inhaber des ,,Gargantua“ und Kolumnist des Magazins der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Klaus Trebes ist Jurist von Beruf und Koch aus Leidenschaft. Eine Karriere, die sich nur im Frankfurter Dotterblumensumpf der sechziger und siebziger Jahre entwickeln konnte. Ein kreatives Biotop als Aufzuchtbecken, grenzenlose Freiheit nach dem selbst gewählten Weg: Wo wir sind, ist das Chaos, aber leider können wir nicht überall sein. Als Klosterzögling aus dem Fränkischen wurde Klaus Trebes im Jünglingsalter von Lawrence Durrells sinnlichen Zeilen in Justine derart angeregt, dass er verzweifelt all Würzburger Lebensmittelläden und Märkte nach schwarzen Oliven abklapperte. Diese Not hatte in Frankfurt während des Jurastudiums ein Ende. Parallel zum ‘68er Aufmucken gegen das Establishment durchstreifte Klaus Trebes die Küche ausländischer Mitstreiter. Basisarbeit für seine wahre Berufung, ebenso wie die Reisen nach Frankreich und Italien, das eifrige Studium von Wein und Rezepten.
    
      
     
Wieder Erwarten seiner fränkischen Familie hat er die Juristerei doch noch abgeschlossen, sogar mit erstem und zweitem Staatsexamen. Immerhin hat er eine Zeitlang als Assistent und Lehrbeauftragter für Jura und Politologie an der Frankfurter Uni gearbeitet. Das richtige Leben war eine Spur exotischer: Klaus Trebes war Schauspieler und verdiente gelegentlich sogar sein Geld mit freien TV-Produktionen; er stand mit Matthias Beltz auf der Kabarettbühne von Karl Naps Chaostheater. Und 1984 eröffnete er mit seiner lebensklugen Frau Monika das Restaurant ,,Gargantua“, erst im Ortsteil Bockenheim, dann im Westend. Es gab die ersten Trüffel, es gab Kutteln und gefüllten Ochsenschwanz. Daniel Cohn-Bendit trank dort seine Lieblingsburgunder, auch Joschka Fischer aß und trank sich tapfer Pfund um Pfund an, bevor er dem stillen Mineralwasser sowie dem Marathonlauf verfiel. Auch die müden Rüden verkehren im ,,Gargantua“, wenn man das so sagen darf. Doch sie tagen jeden Montag im Literaturhaus. Vielleicht ist ,,tagen“ auch das verkehrte Wort, denn niemand schaut bei dieser selbstlosen Arbeit, bei der es immerhin um intensivste Erforschung des Rotweins geht, auf die Uhr, so dass kaum ein Rüde je den Heimweg bei Tageslicht angetreten hat, und falls doch, dann nur in absoluten Ausnahmefällen, wenn der Hahn kräht, der Tag kommt, und Jonny Walker geht. Manchmal kommt ihnen spontan eine Idee zur Rettung der Küchenkultur in deutschen Landen. So hat Franz Zlunka das ,,Deutsche Institut für Hausmannskost“ ins Leben gerufen und es auf sich genommen, der Gründungssitzung mit Entenbraten, Rotkohl, fränkischen Kartoffelklößen und 15 Magnumflaschen Spätburgunder einen strengen, ja köstlichen Traditionsrahmen zu geben. Kochen heißt Geschichten erzählen, sagt ein schwedisches Sprichwort. Zlunka, Trebes und die anderen erzählen sich Geschichten. Rührende, deftige, auch zornige Geschichten. Ein wenig Inhalt können sie schon haben, wobei die Irrsinnsskala ruhig nach oben offen sein darf. Neulich schnüffelte die Stammtischrunde nicht nur am Wein, sondern horchte auch intensiv in Glas. War der Sound des Bordeaux richtig schön satt und rund, wie es sich für einen Jahrgang ‘81 gehört, oder klang er dünn und hohl wie Hagebuttentee? Klaus Trebes flüsterte so leise, dass es jeder im Raum hören konnte: ,, Ich sage es ja immer: Listen to the wine music!“ Einige Herrschaften aus dem hinteren Restaurantbereich befolgten den weisen Rat und horchten nach Herzenslust an ihrem Wein. Wenn ich mich nicht täusche, hocken diese Menschen immer noch da - und haben sogar etwas erlauscht, denn mittlerweile pflegen sie recht angeregt mit ihrem Burgunder zu plaudern. Auch die Nummer mit der Zypresse spricht für die Menschenliebe unserer Samariterrunde. Ein Gast hatte zu seinem Menü den billigsten Wein, einen italienischen Trebbiano, bestellt. Nach dem ersten Glas meckerte er: ,, Der schmeckt aber nicht so wie in Italien. Dort ist er einfach würziger, spritziger, Sie wissen schon, was ich meine.“ Klaus Trebes nickte verständnisvoll: ,, Das liegt an den Zypressen. Die fächeln diesem Wein den Wind zu und geben ihm den richtigen Esprit. Leider wachsen die nicht bei uns. Aber warten Sie, ich habe draußen ein Zypressenbäumchen in Topf stehen, das können wir reinholen. Sie müssen sich nur ein Stündchen gedulden.“ Zwei Rüden schleppten die Topfpflanze an den Tisch; der Gast bestellte eine weitere Flasche, schlürfte nach einer Stunde das erste Glas und rief in heller Freude aus:
,, Einfach genial. Es wirkt. Er schmeckt so wie in Italien!“
     
      
     
Komplizierten zwischenmenschlichen Beziehungen steht der Stammtisch aufgeschlossen gegenüber, da gibt’s keinerlei Verkrampfungen. Der Mode-Mann Manfred Müssig, 47, im frühen Leben Journalist bei Frankfurter Rundschau und FAZ, berichtet von einem lieben Kumpanen, er eines Tages das ,,Gargantua“ mit einer fremden, wunderschönen Frau betrat und sie den Freunden als seine Geliebte vorstellte. In Wahrheit war es seine Frau, die sich gerade von ihm getrennt hatte. Die Freunde plauderten und scherzten artig, man speiste eine Kleinigkeit, trank eine schönes Fläschchen Bordeaux und noch eins und noch eins. Schließlich gab die Runde dem Paar den vernünftigen Rat, doch das kleine, romantische Hotel nebenan aufzusuchen, um die zauberhaft Stimmung zu vertiefen, was auch umgehend geschah. Noch heute hat Herr Müssig eine vor Rührung belegte Stimme: ,,Was soll ich sagen... Die Ehe wurde gerettet!“ Die letzte Weihnachtsfeier im ,,Gargantua“ war der krönende gesellschaftlich Abschluss des Jahres’ 97 und von einem Christbaum und kleinen bunten Tellern verunstaltet. Der Hausherr hatte ein superbes Billito misto zubereitet, eine deftige italienische Schlachtplatte mit Kalbskopf, Zunge, Pökelfleisch, Kochwurst, Huhn, Salzkartoffeln und einer Salsa verde mit genau der richtigen Menge Olivenöl, Knoblauch und grünen Kräutern. Als Aperitif ein paar Gläser schwarzroter, trockener Lambrusco, der brunnenkühl die Gläser beschlagen ließ. Die Gemüter beschlug der Vortrag einer kleinen Episode aus der Welt des internationalen Fußballs. Dichtung oder Wahrheit?, Das mögen dereinst die Historiker anderer Stammtische entscheiden. Jedenfalls berichtet ein atemloser Loddamaddäus von seinem reichen Leben als Fußballlegionär in Mailand. Tagebucheintrag: ,, Sonntag. Auswärtsspiel mit Inter in Brescia. Verloren. Am Abend bei Italiener...“
     
     

Nach und nach werden die Flaschen geöffnet, die von den Stammtischgästen aus ihrem Keller mitgebracht wurden. Qualität und Quantität sind opulent. Auf den Tisch kommen delikate Tropfen in Großformat - Doppelmagnum- und Magnumflaschen allerbester Qualität. Einige Namen? ‘91er Barbera Montruc, ’83er Château Beychevelle Comtesse de Lalande, ‘92er Château Clarke, als Dessertwein ‘76er Forster Ungeheuer Auslese von Wegeler Deinhard und so weiter und so weiter... Nach sechs Stunden aufopferungsvollen Studiums von Rotwein und Bollito misto liegt noch immer keiner der 13 Gästen auf oder unter dem Tisch. Sie sind keine bißchen müde, eher beflügelt von den Geheimnissen des Weins, von der Zwiesprache zwischen Gaumen und Geist; Stolz auf die geleistete Arbeit am Stammtisch erfüllt die Brust.

Und der Rüde Harry Hochheimer, ein Frankfurter Gastronomieberater und exzellenter Weinkenner und -sammler, erzählt von seinen Katzen. Fünf Tierchen hatten ihm Freunde zu seinem 40. Geburtstag geschenkt; Harry H. Nahm die Gabe dankbar an Und ging mit seiner neuen Familie zur Tierärztin zwecks Vorsorgeimpfung. Als die Impfpässe ausgestellt werden sollten und ihn die Frau nach den Namen der Katzen fragte, hatte Harry, inspiriert von den kunstvollen Produkten aus fünf legendären Bordelaiser Weingütern.

     

Von wegen müde: Die größte der Flasche hindert die Rüden oft daran, vor Tagesanbruch ins Bett zu gehen.

     

Eine geniale Idee. Mit fester, dem amtlichen Anlaß angemessener Stimme stellte er seine neuen Schützlinge vor - drei Kater und zwei Katzen, von links nach rechts: ,, Das hier ist Palmer, daneben Latour, dann kommen Margaux und Lafite. Und die junge Dame dort - das ist Comtesse. Bitte notieren Sie Ihren korrekten Namen : Pichon-Longueville Comtesse de Lalande. Soll ich das buchstabieren?“ Über den aktuellen Geisteszustand der Tierärztin ist nichts näheres bekannt.

,, Eine seltsame Geistesleere“, konstatiert ein Gast mit leeren Blick, der spontanes Mitleid erregt. Er hat an einem der hinteren Restauranttische vergeblich am Wein gelauscht, auch sein Handy funktionierte zwischen Hauptgang und Käse nicht so richtig. Nun, um die sechste Stunde des Nachmittags, rennt dieser brave Mensch alle 15 Minuten nach draußen, um ungestört zu telefonieren. Das Lachen am Stammtisch scheint seinen Kommunikationserfolg nachhaltig zu gefährden. Vielleicht auch der Anblick leergetrunkener Magnumflaschen, die Reste der Bollitomisto-Tafel, die einem Bruegelschen Gemälde gleicht, die göttliche Zufriedenheit dieser Runde, in die sich niemand einzumischen wagt. Beim letzten Schluck Château Beaucastel trösteten wir den Ärmsten mit einem brillianten Sonntagswort des total bescheuerten Schweizers Genies Ludwig Hohl über ,, den Menschen, dessen Vorzüge aus Negationen bestehen: Er raucht nicht. Er trinkt nicht. Er ist nicht maßlos. Er mischt sich niemals ein. Er verletzt niemand. Er hat keine inneren Werte.“